Würzburger Forum der Kontemplation e. V. (WFdK)

Kontemplation, was ist das?

 

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Willigis Jäger

Das Wort "Kontemplation" wird in der christlichen Literatur nicht einheitlich verwendet. Es kann das gleiche bezeichnen wie Meditation oder Betrachtung und meint dann ein Meditieren über etwas. Im Mittelalter jedoch hatte es eine klare Bedeutung. Dort wird das Wort "Kontemplation" nur verwendet, um eine Erfahrung zu bezeichnen, die jenseits des verstandesmäßigen Begreifens liegt. Das Wort meint also niemals ein Meditieren über einen Inhalt. Es ist damit auch nicht eine Form der gegenstandsfreien Meditation gemeint, sondern ein Widerfährnis, das einem Menschen zuteil wird, dessen Ich soweit zurückgetreten ist, dass er den Grund des Seins, das Wesen Gottes oder Gottheit (Eckehart), die nonduale Wirklichkeit erfährt. Es bezeichnet einen Zustand des Erfahrens jenseits der aktiven Kräfte unseres Tagesbewusstseins.
"Kontemplation" kommt aus dem Lateinischen. Contemplari heißt "schauen". Diese Grundbedeutung des Wortes wird in den folgenden Ausführungen verwendet. Ziel ist das Schauen in sein wahres Selbst, Schauen einer Wirklichkeit jenseits unseres intellektuellen Begreifens.

Vier Phasen

Kontemplation ist auf ihrem Höhepunkt mehr ein Zustand des Empfangens als des aktiven Tuns. Dieser Zustand kann im Grunde nicht gelehrt, sondern nur erweckt werden. Darum ist es gut, wenigstens am Anfang einen geistlichen Führer zu haben, der den Weg gegangen ist, der erfahren ist, um im Schüler, in der Schülerin den gleichen Brand zu entfachen. Die Anlage dazu ist allen Menschen angeboren. Kontemplation wird der Darstellung wegen in vier Phasen eingeteilt, die sich in der Praxis überschneiden:

  1. Gebetsübung als Weg in die Kontemplation
  2. Wahrnehmung des eigenen Seins - Gebet der Ruhe
  3. Erleuchtungserfahrung
  4. Personalisierung der Erleuchtungserfahrung

Die ersten zwei Phasen lassen sich von jedem körperlich und psychisch gesunden Menschen übend erreichen. Sie führen an ihrem Zielpunkt zu einem Zustand großer Ruhe und tiefen Friedens. Im religiösen Bereich nennt man ihn "Gebet der Ruhe", das als schlichtes Sein in der Gegenwart Gottes erfahren wird. Es ist ein Zustand, der in der Tradition oft schon Kontemplation genannt wird. Der Mensch schaut in sein eigenes Sein. Er erfährt so Gott näher und tiefer als beim mündlichen und betrachtenden Gebet.

Das "Gebet der Ruhe" hat gewöhnlich auch einen starken umstrukturierenden Effekt auf die Persönlichkeit. Doch handelt es sich hier noch nicht um einen mystischen Zustand im eigentlichen Sinn. Dieser tritt erst in den Phasen drei und vier ein. Der mystische Zustand widerfährt dem Menschen; er kann nicht willentlich herbeigeführt, sondern nur durch Gebetsübung vorbereitet werden. Wer in diesen Raum eintreten darf, der erfährt noch einmal neu, was es heißt, Gott aus allen Kräften zu lieben. Gott selbst macht einem solchen Menschen eine neue Kraft zugänglich, aus der heraus er Gott tiefer erkennen und auch lieben kann.

Wie bereits erwähnt, kommen die vier Schritte in der Praxis nicht isoliert vor. Sie überschneiden sich oft mit dem vor-kontemplativen Gebetsleben. Daher soll mit diesen Ausführungen auch nichts überflüssig gemacht werden, was über das christliche Gebet und über Betrachtung geschrieben und gesagt worden ist. Normalerweise baut Kontemplation darauf auf. Es gibt jedoch auch Menschen, die ohne jede Vorbereitung in das kontemplative Gebet hineingezogen werden, und andere, die als Agnostiker diesen Weg beginnen und denen im Laufe der Zeit tiefe Erfahrungen der Göttlichen Wirklichkeit zuteil werden.

Im Folgenden sei auf Texte eines englischen Mystikers aus dem 14.Jahrhundert verwiesen. Sie geben uns eine Beschreibung und sind gleichzeitig auch Anleitung.

Schauen ins nackte Sein

In dem Buch "Weg des Schweigens" oder wie es in einer neueren Ausgabe heißt: "Briefe persönlicher Führung", eine Fortsetzung der "Wolke des Nichtwissens" erfahren wir Näheres über den Weg. Es sind Briefe, die das reifere Werk des Schreibers darstellen. Darin spielt der Ausdruck "Schauen ins nackte Sein" eine wichtige Rolle. Unter den Worten das "nackte Sein" und in seiner Vollendung "Sein Gottes" verbirgt sich wohl nichts anderes als das, was wir "reines Bewusstsein" nennen oder das "wahre Selbst", "Gott", "Gottheit", "Leere". Der Schreiber unterscheidet das Sein des Menschen vom Sein Gottes, ähnlich wie die indische Weisheitslehre: die persönliche Ausformung des Seins wird dort "Atman" genannt und das Sein Gottes "Brahman".

Schauen ins Nackte Sein ist eine Übung, die bei Johannes v. Kreuz "Liebendes Aufmerken" genannt wird. Auch die östlichen spirituellen Wege kennen diese Übung. Im Zen nennt man sie "shikantaza" (nur Sitzen), im Tao te chin "Wu Wie" (Nicht Tun, absichtsloses Handeln). Im Tibetischen heißt es "Mahamudra" (das Große Symbol). Es sind praktische Anweisungen, wie man das Non-duale, das Eine erfahren kann. Um diese Erfahrung geht es auch in diesen Briefen.

Der Weg

Ich möchte zunächst einige Stellen daraus zitieren und dann die Übung erklären. "Nichts ist jetzt wichtiger, außer dem einen, dass du Gott in freudiger Liebe die dunkle Wahrnehmung deines reinen Seins hinhältst, damit er dich im Innersten mit sich einen kann, dein Sein mit seinem Sein." (S. 40)

"Fährst du in dieser Weise fort, bis du zum Grund des Erkennens vorgestoßen bist, wirst du dich auf deinem Seinsgrund wiederfinden in der reinen Wahrnehmung und bildlosen Schau deines eigenen Seins. Daher kann dein eigenes Sein allein die "Erstlingsfrucht" genannt werden." (S. 45)

Auch fromme Gedanken und Gefühle treten zurück. "Von jetzt ab genügt es, Gott mit deinem reinen, ungeteilten Sein aufs höchste zu verherrlichen. Biete ihm nun deine Erstlingsfrucht an, dein reines nacktes Sein. (Das ist das endlose Opfer des Lobes für dich und alle Menschen.) Die Liebe verlangt nichts anderes. Halte diese Wahrnehmung deines Seins frei von allem Denken an dessen Eigenschaften. Leere dein Bewusstsein von allen Einzelheiten des Seins und das anderer Geschöpfe. Solche Gedanken entsprechen jetzt nicht mehr deinem Bedürfnis. Weder fördern sie dein Wachstum, noch bringen sie dich und andere der Vollendung näher. Lass sie, sie helfen dir nicht.

Jetzt genügt dir die dunkle, allgemeine Wahrnehmung deines Seins in ungeteiltem Herzen. Diese lässt dich heranwachsen und bringt dich und die ganze Menschheit der Vollendung näher. Glaube mir, diese Übung ist besser als hohe Gedanken." (S. 46)

"Du bist nun soweit, dass dein Wachstum verlangt, den Verstand nicht länger mit Nachdenken über die vielfältigen und vielfachen Ausfaltungen deines Wesens zu beschäftigen. Früher verhalfen dir diese Übungen zur Erkenntnis Gottes. Sie erfüllten dein Herz mit wohltuender, froher Zuneigung zu ihm und geistigen Dingen und schenkten dir große geistliche Einsicht. Jetzt aber ist es an der Zeit, dich zu bemühen, ständig in der innersten Mitte deiner Seele zu bleiben, um Gott die dunkle Wahrnehmung deines Seins als Erstlingsfrucht anzubieten." (S. 49)

Übung und Alltag

"Diese Übung ist kein Hindernis für deine tägliche Arbeit. Du wirst deiner täglichen Arbeit nachgehen und zugleich mit deiner ganzen Aufmerksamkeit auf die dunkle Wahrnehmung deines Seins gerichtet sein, das mit Gottes Sein vereint ist. Du wirst essen, trinken, schlafen, wachen, gehen, kommen, sprechen, hören, liegen und aufstehen, wirst knien und laufen, reiten, arbeiten und ruhen." (S. 58) Die Übung führt jedoch weiter:

Der Schauende und das Geschaute werden eins.

Der Schauende und das Geschaute müssen eins werden. "Nachdem es dir schließlich gelungen ist, alle Geschöpfe und was sie betrifft zu vergessen, wird noch immer deutlich und unverhüllt die Erfahrung und Wahrnehmung deines eigenen Seins zwischen dir und Gott stehen. Glaube mir, deine Liebe wird nicht vollkommen sein, bis nicht auch das überwunden ist." (S. 101)

"Falls du beim Üben merkst, dass du noch nicht Gott, sondern erst dein eigenes Sein wahrnimmst und erfährst, verlange mit der ganzen Kraft deines Herzens danach, einzig in Gottes Sein zu versinken und dass dir nichts übrig bleibt als der tiefe Wunsch, die kärgliche Erkenntnis und die den Grund verstellende Wahrnehmung deines eigenen dunklen Seins zu vergessen." (S. 79)

Die Ego-Aufgabe

"Zu Anfang sagte ich: Vergesse alles und blicke nur in das bildlose Dunkel deines nackten Seins. Meine Absicht war jedoch, dich zu dem Punkt zu führen, wo du auch dieses noch aufgibst, um nur noch das Sein Gottes zu erfahren. Diese allertiefste Erfahrung hatte ich im Auge, als ich dir anfangs sagte: Gott ist dein Sein. Es war damals noch zu früh, von dir zu erwarten, dass du ohne Übergang in diese hohe Schau des Seins Gottes eintreten würdest. So habe ich dich Stufe um Stufe weitergeführt. Zunächst riet ich dir, in der unverdeckten bildlosen Schau deines Seins zu ruhen, bis dir durch ausdauerndes geistiges Bemühen die Übung der Versunkenheit leicht fällt. Ich wusste, sie würde dich für das innerste Erkennen des göttlichen Seins vorbereiten. Das Wichtigste dieser Übung war, dass in dir eine alles umfassende Sehnsucht wuchs, ein Verlangen, nur Gott zu erkennen, und sonst nichts." (S. 77)

Die Übung des Schauens

Wie kann man seinen Geist in diesen Zustand des Schauens bringen? Wie lässt sich diese letzte Klippe überwinden, die unser Ich ständig aufbaut? Es möchte bei der Erfahrung dabei sein und gerade dieses Verlangen bedeutet ein großes Hindernis. Zweckfreies Üben, das nichts erwartet, das selbst die Sehnsucht nach Gott zurücknimmt, weil auch sie noch störend wirkt, ist die Voraussetzung.

Im Einzelnen kann man folgender Anweisung folgen.

  1. Versuche in den Raum um dich zu lauschen. Ich sage lauschen, nicht denken. Es ist mehr ein Spüren. Du kannst am Anfang auch die Stille zu Hilfe nehmen. Lausche in die Stille, höre die Stille. Stelle dir einen 360 Grad Raum vor, in dem du sitzt. Alle Geräusche und Geschehnisse sind punktuell in diesem Raum, aber du schenkst ihnen keine Beachtung.
  2. Stelle dir vor, es umgibt dich ein heiliger Raum. Wo du auch gehst und stehst, du bist in einem heiligen Raum.
  3. Sobald ein Gedanke erscheint, lasse ihn wieder los und gehe zurück zum Lauschen und spüren.
  4. Lausche mit großer Erwartung ohne etwas Bestimmtes zu erwarten. Schaue nicht vom Kopf her, sondern mit deinem ganzen Sein.
  5. Praktiziere diese Übung auch Tags. Spüre ins Sein hinein.
  6. Versuche diesen Zustand manchmal mit weit offenen Augen zu erreichen.
  7. Übe ohne Anstrengung. Eine solche Anstrengungslosigkeit ist noch schwerer zu erreichen als Entspannung. Es erfordert lange Übung, mühelos nur da zu sein. Um nichts muss gekämpft oder gerungen werden.

Der Beobachter wird zum Beobachteten.

Durch die Übung erweitert sich das Wahrnehmungsfeld. Schauen ins nackte Sein ist uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Wahrnehmung. Man überschreitet damit die Eingrenzung durch das Ichbewusstsein. Selbst Ärger, Aggression, Gedanken, Gefühle und Intentionen erhalten eine neue Qualität. Religion ist Leben mit all seinen Gegebenheiten. Dieser Gebetsweg führt also zurück in den Alltag. Aber der Alltag erhält damit eine neue Ebene. Vielleicht hat Benedikt diese innere Präsenz gemeint, als er seinen Mönchen riet, die Dinge zu behandeln wie heiliges Altargerät, d. h. den Alltag zelebrieren wie einen Gottesdienst. Diese Formulierung besitzt für manche einen bigotten Beigeschmack. In Wirklichkeit meint es aber nichts anderes als: Präsent sein, in jedem Augenblick.

Die Ziffern verweisen auf die Stellen in dem Buch:
Der Weg des Schweigens, Hrsg. W Massa, Verlag Butzon & Berger, 1974
Neuauflage: Willi Massa (Hrsg)., Wolke des Nichtwissens und Briefe persönlicher Führung, Freiburg 1999.

Willigis Jäger,
Benediktinerpater und Zen-Meister, leitet seit 1982 eine Vielzahl von Kursen für Kontemplation und Zenmeditation. Er verbrachte sechs Jahre in einem Zen-Zentrum in Japan unter der Leitung eines buddhistischen Meisters und erhielt 1996 die Beauftragung als Zen-Meister der Sanbô-Kyôdan-Schule. Seit 2003 ist er spiritueller Leiter des Benediktushofes in Holzkirchen, einem Zentrum für spirituelle Wege. Er gilt als einer der bedeutendsten spirituellen Lehrer der Gegenwart und wurde durch seine zahlreichen Publikationen und Vorträge einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

 

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